Semiochemikalien in der Hydroponik
Von der Forschung zur Praxis
1. Grundlagen der chemischen Ökologie
Definition Semiochemikalien
Semiochemikalien sind Botenstoffe, die der Informationsübertragung zwischen Organismen dienen. Sie umfassen sowohl intraspezifische (innerhalb einer Art) als auch interspezifische (zwischen Arten) chemische Signale (Nordlund & Lewis, 1976).
Klassifikation der Semiochemikalien
Intraspezifische Signale (Pheromone)
- Sexualpheromone: Partnersuche und -erkennung
- Aggregationspheromone: Ansammlung von Individuen
- Alarmpheromone: Warnung vor Gefahren
- Spurpheromone: Markierung von Wegen
Interspezifische Signale
- Allomone: Vorteil für den Emittenten
- Kairomone: Vorteil für den Rezipienten
- Synomone: Vorteil für beide Arten
Physikalisch-chemische Eigenschaften
| Eigenschaft | Bedeutung | Praktische Konsequenz |
|---|---|---|
| Flüchtigkeit | Reichweite der Signalwirkung | Dispenser-Design, Applikationsintervall |
| Stabilität | Haltbarkeit unter Umweltbedingungen | Lagerung, Formulierung |
| Spezifität | Artspezifität der Wirkung | Selektivität der Bekämpfung |
| Wirk-Schwelle | Minimale effektive Konzentration | Dosierungsoptimierung |
2. Pheromone: Artspezifische Kommunikation
Sexualpheromone in der Schädlingskontrolle
| Zielorganismus | Pheromon-Komponenten | Formulierung | Applikationsrate | Wirkungsdauer |
|---|---|---|---|---|
| Tomaten-Minierfliege (Liriomyza bryoniae) |
(Z)-9-Tricosene + Acetatester |
Mikroverkapselt 200-400 μg/Dispenser |
50 Dispenser/ha oder 1/10m² |
4-6 Wochen |
| Weiße Fliege (Trialeurodes vaporariorum) |
Neutralite® (Propyl-(E)-3,7,11-trimethyl-2,4-dodecadienoate) |
Septa-Dispenser 10 mg/Dispenser |
500-1000/ha oder 1-2/100m² |
8-12 Wochen |
| Thripse (Frankliniella occidentalis) |
n-(R)-Lavandulyl acetate + Isomer |
Gel-Formulierung in Fallensystemen |
1 mg/Tag Abgaberate | 6-8 Wochen |
| Spinnmilben (Tetranychus urticae) |
(E)-β-Ocimene + (E)-β-Farnesene |
Emulsion zur Blattapplikation |
0,1-0,5 g/ha/Tag | 2-3 Wochen |
Verwirrungstechnik (Mating Disruption)
Prinzip: Durch hohe Pheromonkonzentration in der Luft werden männliche Insekten desorientiert und finden Weibchen nicht mehr.
Anwendungsvoraussetzungen:
- Geschlossene Räume (Gewächshäuser)
- Geringe Anfangspopulation
- Artspezifische Pheromonformulierung
- Kontinuierliche Applikation
Massentrapping
Prinzip: Pheromon-basierte Fallen locken Schädlinge an und eliminieren sie.
Effektivitätsfaktoren:
- Fallendichte (optimiert nach Schädling)
- Platzierung (Höhe, Exposition)
- Kombination mit visuellen Reizen
- Regelmäßige Wartung
3. Kairomone: Interspezifische Signale
Pflanzenbasierte Kairomone
Grüne Blattduftstoffe (GLVs - Green Leaf Volatiles)
- (Z)-3-Hexenol: Frisch verletztes Pflanzengewebe
- (Z)-3-Hexenylacetat: Herbivoren-Attraktion
- Hexanal: Allgemeiner Stressindikator
Anwendung: Künstliche Applikation zur Ablenkung von Hauptkulturen
Terpenoide und andere Sekundärmetabolite
- β-Caryophyllen: Wurzel-signal bei Herbivorenbefall
- Methylsalicylat:</strong Systemisch erworbene Resistenz
- Jasmonate: Direkte Abwehr-Induktion
Anwendung: Push-Komponente in Kombination mit Lockstoffen
Kairomone für Nützlingsförderung
| Nützling | Zielschädling | Wirksame Kairomone | Applikationsmethode | Steigerung der Effizienz |
|---|---|---|---|---|
| Phytoseiulus persimilis (Raubmilbe) |
Spinnmilben (Tetranychus spp.) |
Spinnmilben-Pheromone + Pflanzen-Duftstoffe |
Dispenser nahe Befallsherde |
40-60% höhere Prädationsrate |
| Encarsia formosa (Schlupfwespe) |
Weiße Fliege (Trialeurodes) |
Weiße Fliegen-Pheromone + Honigtau-Duft |
Blattapplikation als Formulierung |
35-50% mehr Parasitierungen |
| Amblyseius swirskii (Raubmilbe) |
Thripse, Weiße Fliege | Thrips-Alarmpheromone + Pflanzenstress-Duft |
Slow-release Formulierungen |
50-70% bessere Etablierung |
4. Applikationstechniken und Formulierungen
Mikroverkapselung
Prinzip: Umhüllung der Wirkstoffe mit polymeren Materialien zur kontrollierten Freisetzung.
Vorteile für Hydroponik:
- Geschützte Wirkstoffe vor Abbau
- Kontrollierte Abgabekinetik
- Reduzierte Applikationshäufigkeit
- Bessere Kompatibilität mit Nährlösungen
Typische Trägermaterialien: Polyurethane, Chitosan, Alginate
Dispenser-Systeme
Passive Dispenser
- Septa-Dispenser: Gummi- oder Polymer-Matrizen
- Membran-Dispenser: Kontrollierte Diffusion
- Matrix-Systeme: Poröse Trägermaterialien
Aktive Dispenser
- Elektronisch gesteuert: Präzise Zeittaktung
- Umweltresponsive: Temperatur-/Feuchtigkeitsgesteuert
- PWM-Systeme: Pulsweitenmodulation
Flüssigformulierungen
Emulsionen und Mikroemulsionen
- Öl-in-Wasser-Emulsionen: Für Blattapplikation
- Mikroemulsionen: Erhöhte Stabilität
- Nanoemulsionen: Verbesserte Penetration
Hydrogele und Gele
- Temperaturempfindliche Gele: Sol-Gel-Übergänge
- pH-responsive Systeme: Gestuerte Freisetzung
- Bioabbaubare Gele: Nachhaltige Formulierungen
Dosierungsberechnung für geschlossene Systeme
Raumvolumen-basierte Berechnung
Formel: V = L × B × H (Raumvolumen in m³)
Beispiel: Gewächshaus 10m × 5m × 3m = 150m³
Pheromonbedarf: 150m³ × 0,1g/m³ = 15g Wirkstoff
Pflanzenzahl-basierte Berechnung
Formel: n = Pflanzenzahl × Applikationsrate/Pflanze
Beispiel: 100 Tomatenpflanzen × 0,05g/Pflanze = 5g
Korrekturfaktor: × 1,2 für Luftzirkulation = 6g Gesamt
5. Praxisimplementierung in Hydroponiksystemen
Luftraum-Management
Bei NFT-Systemen mit vertikalem Pflanzenwachstum ist die vertikale Verteilung der Semiochemikalien kritisch.
Optimale Dispenser-Platzierung
- Untere Ebene: 30-50cm über Boden
- Mittlere Ebene: Pflanzenmitte
- Obere Ebene: 20-30cm unter Decke
- Horizontalabstand: 2-3m zwischen Dispensern
Kombination mit Klimasteuerung
- Lüftereinsatz zur Verteilung
- Temperaturkontrolle (15-25°C optimal)
- Relative Luftfeuchtigkeit 60-80%
- Vermeidung von Totzonen
Wasser-Luft-Transfer optimieren
Die höhere Luftfeuchtigkeit in DFT-Systemen beeinflusst die Verdunstung und Verteilung der Semiochemikalien.
| Parameter | Einfluss auf Semiochemikalien | Anpassungsmaßnahme |
|---|---|---|
| Luftfeuchtigkeit >80% | Reduzierte Verdunstung | Höhere Abgaberate einstellen |
| Wassertemperatur | Beeinflusst Luftkonvektion | Kühlung/Heizung optimieren |
| Lüftungsintensität | Verteilungsgeschwindigkeit | Zirkulation erhöhen |
6. Fallbeispiele und Erfolgsmessung
Fallstudie: Thripsbekämpfung in NFT-Tomaten
Ausgangssituation
- Kultur: Tomaten (Solanum lycopersicum)
- System: NFT, 200m² Gewächshaus
- Problem: Frankliniella occidentalis
- Befallsstärke: 15-20 Thripse/Gelbtafel/Tag
Implementierte Maßnahmen
- Push: Methyljasmonat-Blattapplikation
- Pull: Thrips-Pheromon + Blautafeln
- Dispenser: 25 Stück, gleichmäßig verteilt
- Applikation: Kontinuierlich über 8 Wochen
Ergebnisse nach 8 Wochen
- Befallsreduktion: 87%
- Schadensindex: Von 3,2 auf 0,4
- Ertragssteigerung: 22%
- Kosten-Nutzen: 1:4,3
7. Wirkmechanismen Übersicht
Allomone
Allomone sind chemische Signale, die von einem Individuum einer Art produziert und freigesetzt werden, um das Verhalten eines Mitglieds einer anderen Art zu beeinflussen, wobei der Emittent davon profitiert, der Empfänger jedoch nicht oder sogar geschädigt wird. Sie wirken zwischen verschiedenen Arten (interspezifisch) und dienen oft der Verteidigung, beispielsweise durch abstoßende Sekrete von Insekten oder Pflanzen. Ein Beispiel ist Linalool, das von der Limabohne bei Befall durch Spinnmilben produziert wird und Raubmilben anlockt, die die Schädlinge bekämpfen.
Kairomone
Kairomone sind Signalstoffe, die zwischen Individuen verschiedener Arten wirken und ausschließlich für den Empfänger von Vorteil sind. Sie können als chemische Warnsignale dienen, die den Empfänger vor einer Bedrohung warnen, oder als Lockstoffe, die den Empfänger zu einer Nahrungsquelle führen. Beispiele sind Duftstoffe, die die Anwesenheit von Beutetieren anzeigen und die Jagd des Raubtieres erleichtern.
Synomone
Synomone sind Signalstoffe, die sowohl dem Sender als auch dem Empfänger zugutekommen. Ein klassisches Beispiel ist der Duft von Blüten, der Bestäuber wie Bienen anzieht, wobei die Pflanze durch die Bestäubung ihren Fortpflanzungserfolg sichert und die Insekten Nahrung in Form von Nektar und Pollen erhalten. Auch die von Pflanzen ausgeschiedenen Terpenoide, die für Schädlinge kairomonartig wirken, können für nützliche Parasitoide synomonartig wirken, indem sie diese zur Bekämpfung der Schädlinge führen.
Literaturverzeichnis
- Nordlund, D. A., & Lewis, W. J. (1976). Terminology of chemical releasing stimuli in intraspecific and interspecific interactions. Journal of Chemical Ecology, 2(2), 211-220.
- Pickett, J. A., et al. (2014). Aspects of insect chemical ecology: exploitation of reception and detection. Trends in Plant Science, 19(5), 272-281.
- Bruce, T. J., & Pickett, J. A. (2011). Perception of plant volatile blends by herbivorous insects–finding the right mix. Phytochemistry, 72(13), 1605-1611.
- Kaplan, I. (2012). Trophic complexity and the adaptive value of damage-induced plant volatiles. PLoS Biology, 10(10), e1001437.
- Dicke, M., & Baldwin, I. T. (2010). The evolutionary context for herbivore-induced plant volatiles: beyond the 'cry for help'. Trends in Plant Science, 15(3), 167-175.
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